Eugen Richter
1838-1906







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Eugen Richter gegen das Sozialistengesetz (1. Version)
 


Reichstag, 23. Mai 1878

 
 

Präsident: Der Herr Abgeordnete Richter (Hagen) hat das Wort.


Abgeordneter Richter (Hagen): Der Herr Minister hat es mit einer gewissen Emphase ...

(Rufe: Tribüne!)

— ich bin sehr gern bereit, auf die Tribüne zu gehen, ich habe aber bisher noch immer die Erfahrung gemacht, daß ich von diesem Platz aus besser verstanden bin als von der Tribüne.

Meine Herren, der Herr Minister hat es mit einer gewissen Emphase konstatiren zu müssen geglaubt nach der Rede des Herrn von Bennigsen, daß die Gefahren der Sozialdemokratie auch auf liberaler Seite nicht unterschätzt würden. Der Herr Minister scheint in der That dieser Bewegung und der Stellung der einzelnen Parteien dazu erst seit der kurzen Zeit der Amtsführung genauer gefolgt zu sein, sonst müßte er wissen, daß zu keiner Zeit von liberaler Seite die Gefahren der Sozialdemokratie unterschätzt worden sind,

(sehr wahr! links)

daß sie die Gefahr früher erkannt hat als die Regierungen, namentlich sein Amtsvorgänger Graf Eulenburg I.

(Große Heiterkeit.)

Als die Sozialdemokratie begann, war es meine Partei, die Fortschrittspartei, die auf das entschiedenste und nachdrücklichste den Anfängen dieser Bewegung entgegentrat. Seit jener Zeit ist sie die bestgehaßte Partei von Seiten der Sozialdemokratie, und wir geben uns alle Mühe, die bestgehaßte Partei diesen Herren gegenüber zu bleiben. Mit vollem Recht hat man zu jener Zeit den Gegensatz zu Ferdinand Lassalle und seiner sozialistischen Agitation nicht schärfer personifiziren zu können geglaubt, als indem man ihm die Person von Schulze-Delitzsch unmittelbar als den entschiedensten Gegner gegenüberstellte.

(Sehr richtig!)

Meine Herren, wo war damals aber die Regierung?

(Hört, hört!)

Als ich dem Grafen zu Eulenburg im Jahr 1876 im preußischen Abgeordnetenhaus entgegenhielt, wie er sich zur Zeit, als die sozialistische Bewegung ihren Anfang nahm, in einer gewissen wohlwollenden Neutralität, um es milde auszudrücken, der Sozialdemokratie gegenüber verhalten habe, da wußte der Herr Minister mir nichts anderes zu erwidern, als wörtlich Folgendes:

Man habe die sozialdemokratische Bewegung eine Zeitlang gehen lassen, damit die Welt sähe, was es damit für eine Bewandtniß habe;

(Heiterkeit)

erst seit 1 1/2 Jahren sei die Frucht zum Pflücken reif.

Meine Herren, wir sind nie im Zweifel gewesen, was es mit der Sozialdemokratie für eine Bewandtniß habe. Wir haben das unsrige zu jeder Zeit gethan, damit die Saat nicht aufgehe und die Frucht nicht reif werde. Wir stehen im entschiedensten Gegensatz zu jenen Zielen und zu dem Programm der Sozialdemokraten, wie er entschiedener überhaupt gar nicht bestehen kann. Was will die Sozialdemokratie? Sie will die ausschließliche Produktion durch den Staat, den ausschließlichen Staatsbetrieb. Wir sind der Meinung, umgekehrt, daß, wenn man, wie es die Sozialdemokratie will, das eigene Interesse, die Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen auf ein Minimum reduzirt in der Volkswirthschaft, wenn man diese Faktoren ausschließt, matt setzt in der Produktion, damit die Produktion und die Kulturentwickelung auf ein Minimum zurückgedrängt würde.

(Sehr richtig!)

Darum, meine Herren, stehen wir so außerordentlich kühl, nüchtern gegenüber, auch wenn es sich nur um eine Ausdehnung des gegenwärtigen wirthschaftlichen Staatsbetriebs handelt, beispielsweise in der Reichseisenbahnfrage, beispielsweise in der Frage des Tabakmonopols. Der Herr Reichskanzler freilich, wenn er den angeblich übermäßigen Geschäftsgewinn der Tabakhändler dem Staat zuwenden will, der steht, ohne sich vielleicht dessen klar bewußt zu sein, der sozialistischen Anschauungsweise weit näher.

(Sehr richtig! Heiterkeit.)

Der sozialistische Staat hat die Vernichtung der persönlichen und politischen Freiheit zur Vorbedingung.

(Widerspruch bei den Sozialisten.)

— Jawohl! Krasser Despotismus einer Majorität oder einzelner weniger Leute, die dem Einzelnen vorschreibt, was er zu arbeiten hat, was er dafür für einen Lohn empfängt und was er dafür zu konsumiren hat; das ist der sozialistische Staat.

(Widerspruch.)

Es ist ja alles, was die Sozialisten wollen, gedruckt zu lesen; über ihre Tendenz ist ja nur die Polizei im Unklaren.

(Große Heiterkeit.)

Uns, meine Herren, werden Sie stets in der Opposition finden, wenn es darauf ankommt, diese persönliche, politische und wirthschaftliche Freiheit des Einzelnen zu beschränken, während die Sozialisten, wenn es sich nicht gerade um die Freiheit des Arbeitnehmers handelt, das habe ich schon einmal zu bemerken Gelegenheit gehabt, weit mehr mit den andern Parteien des Hauses zusammenstimmen, wie mit uns. Meine Herren, wir sind der Meinung, daß Kulturentwicklung, wirthschaftliche Entwicklung in erster Reihe beruht auf dem Verhalten des einzelnen und dem freien Zusammenwirken des einzelnen in der bürgerlichen Gesellschaft, in der Volkswirthschaft. Auf jener Seite wirft man die ganze Verantwortlichkeit der Zustände auf den Staat, glaubt, daß der Staat, wie ein sozialdemokratischer Schriftsteller sich ausdrückt, der sozialistische Staat die Allmacht, Weisheit und Güte repräsentiren werde, die man in der heutigen Weltordnung dem Herrgott zuschreibt. Wir hören auch hier sehr oft von anderen Parteien, daß man der Verantwortung des Staates mehr zuweist, als der Staat verantworten kann. Wenn hier die Regierung und sei es selbst eine Regierung, gegenüber der wir uns in Opposition befinden, verantwortlich gemacht wird, beispielsweise für das Darniederliegen des Gewerbes, dann sind wir jedesmal eingetreten für diese Regierung und die einzelnen Männer von ihr, indem wir ausführten, es darf eine Regierung, und möge sie sein, welche sie wolle, nicht für mehr verantwortlich gemacht werden, als überhaupt der Staat verantwortlich gemacht werden kann. Freilich fängt man in bedenklicher Weise jetzt seitens der Regierung selbst an, die Verantwortung übernehmen zu wollen für die wirthschaftliche Gestaltung der Verhältnisse, man sucht den Glauben zu erwecken in der Regierungspresse, als ob es bloß eines neuen wirthschaftlichen Programms, anderer Maßnahmen der Regierung bedürfe, um die gegenwärtigen wirthschaftlichen Nothstände zu beseitigen. Solche Anschauungen über die Verantwortung des Staats, wie sie bei den Sozialdemokraten in größter Ausdehnung vorhanden sind, findet man bei keiner Partei weniger als bei uns.

Meine Herren, der Herr Abgeordnete Jörg hat die sozialistische Bewegung bezeichnet als einen Schatten, der das moderne Kulturleben begleitet. Ich weise das zurück. Meine Herren, das ist der Schatten des untergehenden Polizeistaats, der noch in unser Kulturleben hineinfällt; der Polizeistaat hat die Menschen erzogen in dem Wahn, daß es nur auf den Staat und die Staatsgewalt ankomme, um die größte Glückseligkeit auf der Welt hervorzubringen. Daher ist in den Köpfen jener Leute die Meinung entstanden, daß es nur darauf ankomme, des Staatsruders sich zu bemächtigen, seine Leute in die Leitung des Staates einzusetzen, und jene geträumte Glückseligkeit sei sofort zu erreichen, die angeblich jetzt aus bösem Willen von denen, die den Staat leiten, ihnen vorenthalten wird.

Die Sozialdemokratie, meine Herren, ist indeß nach meiner Ueberzeugung weniger gefährlich in den utopischen Zielen, die sie anstrebt, als in den Mitteln, die sie anwendet, um zu diesen Zielen zu gelangen.

(Sehr richtig! links.)

Jene Aufregung des Klassenhasses, die Erweckung des Klassenbewußtseins, wie sie selbst sagt, das Aufreizen der besitzlosen gegen die mehr besitzenden, der einzelnen Volksklassen gegen einander, darin liegt die große Gefahr, die Schädigung der wirthschaftlichen und bürgerlichen Gesellschaft. Wir sind immer der Meinung gewesen, daß gerade nach der Seite der Sozialdemokratie in freiem Zusammenwirken entgegen zu treten, Aufgabe aller dazu berufenen Kräfte in der bürgerlichen Gesellschaft weit mehr ist, als Aufgabe der Polizei.

Es ist auch auf die Wirksamkeit der Kirche Bezug genommen. Nun, meine Herren, der Herr Abgeordnete Jörg wird selbst das Wirken der Hofprediger in Berlin damit nicht in Verbindung bringen wollen. Wir möchten in der That wünschen, daß die Herren davon wenigstens die Hand lassen und sich daraus beschränken, was sie verstehen, sie verstehen ja selbst ihren Beruf wenig. Meine Herren, ich verkenne die Wirkung der Kirche auf dem Gebiete der Erhaltung des Friedens unter den einzelnen Volksklassen durchaus nicht, aber über die Grenzen der einzelnen Konfessionen und Religionsparteien hinaus gibt es ein gemeinsames Band, einen gemeinsamen Bund, der alle vereinigen muß in humanen Bestrebungen. Das hat mein Freund Schulze schon zu einer Zeit ausgesprochen, als zum letzten Mal wohl die Frage so ausführlich parlamentarisch erörtert wurde, wie sie heute erörtert wird, bei jener Debatte über die Koalitionsfreiheit im preußischen Abgeordnetenhause im Jahre 1865. Er sagte damals:

Die soziale Frage ist keine spezifische Frage, die man mit irgend einem spezifischen Mittel gleich den Wunderpillen eines Quacksalbers zu lösen vermag. ..... Wir, meine Herren, dagegen bescheiden uns, daß das, was der Einzelne in dieser großen Frage thun kann, unendlich wenig ins Gewicht fällt; wir bescheiden uns, daß wir zu verharren haben in unserer dauernden und ruhigen Thätigkeit für die Sache; wir wissen, daß die sozialen Aufgaben und die politischen Aufgaben für uns dasselbe sind, und daß sie in ihren Endzielen und in ihren Voraussetzungen zusammenfallen. Es gilt, uns nicht nur in dem verfassungsmäßigen Rechtsstaat auf dem Boden der wirthschaftlichen und politischen Freiheit einen Bau zu gründen, in dem alle Klassen des Volkes ihren Platz finden; nein, es gilt auch, diesen Bau als die würdige Form mit dem würdigen Inhalt zu erfüllen, mit dem Geist der neuen Zeit, und das ist der Geist der Humanität. Dazu helfe uns das Volk.

Meine Herren, der Redner hat es wahrlich seinerseits nicht bei dieser Rede bewenden lassen, sondern ein arbeitsvolles Leben darauf verwandt, nach einzelnen Richtungen allerdings, diese Gebote der Humanität den arbeitenden Klassen gegenüber zu erfüllen. Fern sei es von mir, diese Bestrebungen vom Fraktionsstandpunkt aus in Anspruch zu nehmen. Nein, meine Herren, alle diese Bestrebungen nach den verschiedenen Richtungen auf dem Gebiet der Humanität gehen weit hinaus über die Grenzen unserer und auch der benachbarten Partei; sie sind sehr großen und weiten Kreisen des Volkes gemeinsam. An uns braucht deshalb nicht die Aufforderung erst heute gerichtet zu werden, in einen Bund einzutreten, um auf dem praktischen Wege durch positive Schöpfungen der einen oder der anderen Art dazu beizutragen, daß der Klassenhaß vermieden wird, daß sich die Bürger als Bürger eines Staates fühlen, daß diejenigen, die im Besitz und Wissen in der bürgerlichen Gesellschaft günstiger gestellt sind, dieses ihr Kapital auch verwenden im Interesse derjenigen, die ungünstiger gestellt sind. Die Gefahr ist vorhanden, wenn man den Gegensatz der Klassen ausbeutet zu politischen Zwecken, wenn man sich nicht scheut, den politischen Parteikampf in den Klassenkampf hineinzutragen. Darin stimme ich mit dem Herrn Abgeordneten von Helldorff in seinen heutigen Ausführungen vollständig überein.

Vor jener Gefahr ist damals von unserer Seite wahrlich scharf genug gewarnt worden. Der Abgeordnete Schulze machte damals eine Aeußerung, die ihm nachher in sozialistischen Kreisen, natürlich unter Entstellung ihres wirklichen Inhalts, stets nachgetragen worden ist. Er sagte:

Man mag wohl die soziale Frage die moderne Sphynx unserer Zeit nennen, meine Herren. Nun gibt es in der menschlichen Natur, bei uns allen, wie wir sind, bei groß und klein, bei vornehm und gering eine dunkele Grenzlinie, wo das Thierische an das Menschliche streift, und wehe dem, meine Herren, das sind die Erfahrungen aller Jahrhunderte, wer muthwillig und mit frivoler Hand an diese Grenzlinie tastet: der entfesselt die Bestie, die ihn mit seinen Löwenklauen zerfleischen wird.

Gegen wen war damals diese Warnung gerichtet, nicht an die Leidenschaft, nicht an den Klassenhaß zu appelliren? Gegen die konservative Partei des preußischen Abgeordnetenhauses, gegen den Wortführer in dieser Frage, gegen den Abgeordneten Wagener.

(Hört! hört! links.)

Heute ist wieder von konservativer Seite von den Arbeiterbataillonen gesprochen worden. Es war in eben jener Sitzung, als zum ersten Male von konservativer Seite den liberalen Parteien mit dem Massenschritt der Arbeiterbataillonen gedroht wurde. Meine Herren, dieser Warnung in jener Sitzung war eine andere Warnung an die konservative Partei und an die Regierung vorausgegangen aus dem Mund des Abgeordneten Löwe, der damals sagte, man möge sich an den Zauberlehrling ein warnende Beispiel nehmen, der die Geister, die er berufen hatte, nachher nicht wieder zu bannen vermochte. Heute ist gesagt worden von dem Herrn Abgeordneten Grafen von Bethusy-Huc, es liegen keine erwiesenen Thatsachen über einen Zusammenhang der Regierung mit der Sozialdemokratie vor. Doch, meine Herren, nur zu sehr liegen sie vor. In jener Verhandlung des Abgeordnetenhauses wurde die Stellung des Abgeordneten Wagener, die Stellung des Fürsten Bismarck zu einer schlesischen Weberdeputation scharf beleuchtet; der Abgeordnete Wagener war schon damals in der sozialen Frage leider der Vertrauensmann des Fürsten Bismarck und ist kurze Zeit darauf sein amtlicher Vertrauensmann geworden und hat die Stellung lange bekleidet; Sie haben noch heute aus dem Munde des Herrn Abgeordneten Jörg gehört, wie Herr Wagener zu einer internationalen Konferenz im Jahre 1872 über die sozialdemokratische Frage von dem Fürsten Bismarck verwendet worden ist, ja noch mehr, nachdem der Herr Abgeordnete Lasker bereite die wahre Natur Wageners entlarvt hatte im Jahre 1874, hat der Fürst Bismarck diesen selben Mann zum sozialistischen Kongreß nach Eisenach als Vertrauensmann gesandt, in dessen Gefolge sich als Sekretär auch der in der letzten Zeit vielfach genannte Rudolf Meyer befand. Meine Herren, was man darum über Wagener sagt, trifft mehr als ihn, trifft die Regierung. Wie war es denn mit der schlesischen Weberdeputation? Im April 1864, als Lassalle seiner Agitation eine gewisse Ausdehnung gegeben hatte, erschien aus Waldenburg und Wüstegiersdorf eine Deputation von Webern mit einer Adresse an den König, worin sie verlangten, es solle ein Gesetz gegeben werden, daß den Arbeitern eine Mitwirkung bei den Lohnfestsetzungen eingeräumt werde. Diese Adresse war hauptsächlich angefüllt mit Klagen und Beschwerden über die Lage der Arbeiter unter den liberalen Fabrikbesitzern jener Gegend, insbesondere des Abgeordneten Leonor Reichenheim, eines Mannes, der mehr wie andere Arbeitgeber für die Verbesserung der sozialen Verhältnisse seiner Arbeiter gethan hat. Im folgenden Jahre bei dieser Verhandlung, von der ich spreche, hat Fürst Bismarck anerkennen müssen nach einer veranstalteten Enquete, daß es größtentheils Unwahrheiten gewesen sind, die in jener Adresse behauptet waren. Alle lokalen Beamten, der Oberpräsident, der Landrath, haben davon abgerathen, einer Deputation Gehör zu geben, die solche Unwahrheiten verbreiteten. Der Minister des Innern hat es abgelehnt, sich mit der Deputation zu befassen; Fürst Bismarck persönlich ist es gewesen, der diese Deputation beim König damals einführte, Fürst Bismarck persönlich ist es gewesen, der Seiner Majestät den Rath gegeben hat, diese Weber mit einer Kapitalunterstützung —

(Ruf: Zur Sache!)

Es gehört leider das zur Sache; wenn man solche Dinge verstehen will, muß man auf den Anfang zurückgehen, ehe die Bewegung um sich griff, und wo man noch mit leichten Mitteln sie beherrschen konnte. — Fürst Bismarck ist es gewesen, der veranlaßt hat eine Unterstützung der Weber zuerst mit 6000 Thaler Kapital, dann nochmals mit 6000 Thaler Kapital, um getreu nach Lassalleschem Muster eine Produktivassoziation mit Staatshilfe im Waldenburger Kreise in Szene zu setzen, eine Produktivassoziation, die trotz der Aufsicht des Landraths sehr bald zu Grunde gegangen ist. Ich bin Zuhörer gewesen bei der letzten Vertheidigungerede von Ferdinand Lassalle vor dem Düsseldorfer Gericht, wo er sich berief auf die Sympathien, die seine Bestrebungen beim König von Preußen und beim Bischof Kettler fänden.  Lange genug hat in sozialistischen Versammlungen die Frage auf der Tagesordnung gestanden: der König von Preußen und die soziale Frage. —Ich klage nur den an, der den Rath dazu gegeben hat, in dieser Weise zu verfahren. Damals hat ein so milder Mann wie Leonor Reichenheim — längst deckt ihn die Erde — keinen Anstand genommen, im preußischen Abgeordnetenhaus die Sache zu bezeichnen, was sie ist. Er hat gesagt, indem er das darstellte, was ich eben angeführt habe: „daraus mag man erkennen, daß das ganze ein Spiel war, ein so trauriges Spiel, wie es je gespielt worden ist. zum Nachtheil, ich wiederhole es, des Königthums von Gottes Gnaden.“

Meine Herren, der Führer jener Deputation — noch im vorigen Jahre bemerkte ich seinen Kopf in der sozialistischen Agitationsversammlung, las ich in den Inseraten der „Berliner freien Presse“ einen Vortrag angekündigt, den er in der sozialistischen Versammlung bei Gratweil hier in Berlin gehalten hat. Es hat jene Auszeichnung der Deputation in weiten Kreisen dazu beigetragen, die Bevölkerung irre zu machen, die Behörden zweifelhaft zu machen über die Stellung, welche die königlichen, Behörden eigentlich der neu auftauchenden Bewegung gegenüber einzunehmen hätten. Es kam die Zeit des Herrn von Schweitzer, es erschien der „Neue Sozialdemokrat“, der verkündigte, die liberalen Parteien wollten das Elend der Arbeiter, an die konservativen Parteien, an den Fürsten Bismarck müsse man sich anschließen, der werde für den armen Arbeiter etwas thun. In jener Zeit war Liebknecht Redakteur der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung.“ .

(Hört! hört!)

Ich trete Herrn Liebknecht nicht zu nahe. Herr Liebknecht schied in jenem Jahre 1865 aus der Redaktion aus. In einer seiner Schriften theilt er mit, daß er ausgeschieden sei, als diese „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ Regierungsorgan geworden. Es sei ihm angeboten, auch in dem Regierungsorgan nach wie vor über Sozialismus und Kommunismus in seinem Sinne zu schreiben,

(hört! hört!)

er habe das aber abgelehnt, um sich nicht in diese Bewegung einzulassen. Gleich darauf ist Liebknecht damals aus Berlin ausgewiesen worden. Es erregte das umsomehr Aussehen, als es eine sehr vereinzelte Maßregel war, die man damals gegen Sozialdemokraten ausübte. Wer noch jene Zeiten im Gedächtniß hat, — ich kenne sie genau, ich habe damals eine Geschichte der Sozialdemokratie über das Jahr 1865 geschrieben nach Protokollen, die über sozialistische Versammlungen aus Veranstaltung der liberalen Parteien geführt wurden, — der weiß, daß zu jener Zeit zwischen der Haltung des Regierungsorgans, der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ und des sozialdemokratischen Organs in Berlin darin kein Unterschied mehr war, daß dieselben Stichworte gegen die liberalen Parteien und die damalige Majorität des Abgeordnetenhauses ausgespielt wurden.

Herr Bebel hat hier im Reichstag über Herrn von Schweitzer, der bis zum Jahr 1872 Präsident des allgemeinen deutschen Arbeitervereins in Berlin gewesen ist, am 9. Dezember 1875 folgendes erklärt:

Wir aber wissen es, daß Herr von Schweitzer, der sozialistische Führer, im geheimen ein politisches Werkzeug der preußischen Regierung war, der unter radikaler Maske den Regierungsagenten spielte.

Meine Herren, der Herr Hasenclever, der zu jener Zeit, als von Schweitzer Präsident des Vereins war, Sekretär des Vereins war, hat den Herrn Abgeordneten Bebel noch nicht berichtigt in Bezug auf diesen Punkt.

Man muß doch annehmen, daß die Herren ihre eigene Vorgeschichte selbst am besten kennen. Ich kann nicht sagen, daß ich es für eine Verleumdung halte, wenn man eine solche  Behauptung aufstellt, daß die sozialdemokratische Bewegung in Berlin bis in das Jahr 1872 hinein wesentlich und in der Hauptsache ein Kunstprodukt gewesen ist, das von einer Seite unterstützt und subventionirt worden ist. Wir haben auch in jener Zeit in Berlin versucht, unsere Schuldigkeit zu thun in der Bekämpfung solcher Agitationen. Gleichgiltig aber ob damals die Sozialdemokratie wirklich im Bunde war, durch Schweitzer, Wagener, oder wer sonst die Verbindungskette bis zur Regierung hinauf bildete, das muß ich sagen nach meiner eigenen Erfahrung, das Zusammenspiel zwischen der offiziösen Presse und zwischen dem Redner Herrn Geheimrath Wagener im Reichstag und der Haltung der sozialdemokratischen Presse in Berlin hätte in jener Zeit nicht besser sein können, als wenn sie wirklich im Bunde miteinander gewesen wären. Wir haben damals versucht, auch unsererseits durch Versammlungen die Sozialdemokratie zu bekämpfen. Wie ist es uns aber ergangen? Seit dem Jahr 1869 wurde das Präjudiz gegeben, daß alle politischen Versammlungen in Berlin vogelfrei waren, preisgegeben dem Eindringen jeder noch so kleinen Bande von Skandalmachern und Störern. Das erste Beispiel der Art wurde gegeben im Konzerthause an der Leipziger Straße. Es handelte sich in der damaligen Versammlung um eine militärische Frage. Die Sozialistenführer erlaubten sich damals den Scherz, die Versammlungen, die von der Fortschrittspartei oder sonst einer Partei angekündigt waren, gleichfalls bei der Partei als ihre Versammlung anzukündigen, obwohl sie dem Hausbesitzer, dem Wirth gegenüber dazu kein Recht besaßen. Nun drangen sie ein und störten die Versammlung durch Tumult. In diesem Falle entstand eine förmliche Prügelei in der Versammlung und machte eine ruhige Abhaltung derselben unmöglich. Der Minister des Innern

(Ruf: Vereinsrecht!)

Ja, meine Herren, wir sprechen von der Handhabung des Vereinsrechts, jetzt bin ich bei der Sache, um den Ministern zu beweisen, wie das Vereins- und Versammlungsrecht gehandhabt wurde. Es mag sein, daß diese Sache Ihnen nicht gefällt, aber zur Sache gehört nichts mehr als dieses. Wir beschwerten uns in dem preußischen Abgeordnetenhause über diese Haltung der Polizei, welche nicht Schutz gewährt den politischen Versammlungen in Berlin, sondern ruhig vor der Thür steht und zusieht, wie eine Versammlung durch Eindringliche gestört wird. Auf diese Beschwerde erwiderte der Herr Minister Graf Eulenburg in der jovialen Laune und humoristischen Weise, die ihm eigen ist, im Abgeordnetenhause: was das großes wäre? Er sagte unter anderem:

Die Theilnehmer der zweiten Versammlung rücken an. Die Polizei hat keine Berechtigung, ihnen den Eintritt zu verwehren, sie vermischen sich mit einander und man hört ein dumpfes Getöse. Es wird gemeldet, sie prügeln sich, aber die Eingänge zum Saal sind so voll, daß ein Eindringen der Polizei, um das, was darin vorgeht, zu hören, nicht möglich ist. Es müßte erst eine neue Prügelei stattfinden, um sich Eingang zu verschaffen. Unter diesen Umständen muß sich die Polizei darauf beschränken, zu warten, bis sich der Lavastrom ergießt und bis die Unordnung aus dem Versammlungslokal hinaus tritt auf die Straßen und dort das Publikum stört.

Der Minister fügte noch ausdrücklich hinzu:

Das sind die Gesichtspunkte, von denen. die Polizei auszugehen hat.

(Heiterkeit.)

Wenn so ein Minister die leitenden Gesichtspunkte in dieser Weise im Abgeordnetenhause aussprach, wenn er gewissermaßen das Versammlungsrecht. als nicht mehr unter dem Schutze der Polizei und des Staates stehend erklärte,  jede politische Versammlung für vogelfrei erklärte, darf man sich wundern, meine Herren, daß die sozialdemokratische Partei von dem Augenblicke an sich ermuntert fühlte, überall in die Rechtssphäre anderer Parteien, in ihr Versammlungsrecht einzubrechen? Nicht das wollen wir, daß die Freiheit auf dem Gebiete des Versammlungswesens beschränkt werde, aber wir klagen die Regierung an, daß sie ihre Machtmittel nicht benutzt hat, um die Freiheit anderer gegen diese Eingriffe der sozialdemokratischen Partei zu schützen, daß sie das natürliche Hausrecht in Versammlungen und Vereinen nicht unter polizeilichen Schutz gestellt hat. Die Zahl derjenigen, die an einer politischen Versammlung sich betheiligen wollen, wenn sie vorher Theil nehmen müssen an einer Prügelei, ist natürlich eine viel geringere.

(Heiterkeit.)

Seit jener Zeit, seit dieser Versammlung im Konzerthaus hat ein freies Versammlungsrecht, haben Volksversammlungen in Berlin nur bestanden für die sozialistische Partei,

(hört!)

allen anderen Parteien ist es, um sich gegen solchen Einbruch und solche Verfälschung zu schützen, nur möglich gewesen, den Zutritt gegen Karten zu gestatten. diese Praxis der Sozialdemokraten, in fremde Versammlungen einzubrechen,

(Ruf: Volksversammlungen !)

— nicht Volksversammlungen! Das ist schon zehnmal hier bewiesen worden, daß sie eingedrungen sind in Versammlungen der nationalliberalen Partei, das letzte Mal unter dem Vorsitzenden Herrn Dernburg, in Versammlungen der Fortschrittspartei, wo ich selber zugegen war und wo sie gar nichts zu suchen hatten.

(Heiterkeit.)

Es war gerade dies eine Versammlung der Fortschrittspartei, die aus meine Veranlassung zum ersten Mal wieder ohne Austheilung von Karten stattgefunden hatte. Sofort — sie sind nur eine Kleinigkeit zu spät gekommen — sind Sozialdemokraten eingedrungen, und ihre Führer konnten nur durch Polizei beseitigt werden; die Sache hat später auch bei Gericht gespielt. — So also, wie ich es vorhin geschildert, ist früher das Versammlungsrecht schutzlos gewesen, man hat mit einer gewissen wohlwollenden Neutralität es angesehen, daß die Versammlungs- und Vereinsfreiheit durch dritte Personen viel mehr beschränkt wurde, als das jemals durch Polizei und Polizeigesetze der Fall gewesen ist. Das hat viel dazu beigetragen, die sonst natürliche Reaktion gegen die sozialistische Agitation lahm zu legen. Nun, meine Herren, man spricht wohl von liberalen Parteien, von der Herrschaft der liberalen Parteien, unter denen die Sozialdemokratie diese Ausdehnung gewonnen hat. Ich muß Ihnen sagen, von einer Herrschaft der liberalen Parteien habe ich in der Zeit, wo die sozialdemokratische Bewegung begonnen hat, sehr wenig bemerkt, wir haben die ganze Zeit hindurch eine konservative Regierung gehabt

(Oho!)

— gewiß! die noch dazu von einer persönlichen Autorität getragen war, vielmehr als das vorher oder nachher bei einer Regierung der Fall sein wird. Die Sozialdemokratie ist nicht älter als das Ministerium Bismarck; die Probe ist noch gar nicht gemacht, welche Nahrung und welchen Spielraum eine derartige Bewegung unter einer wirklich liberalen Regierung findet. Etwa die Sozialdemokratie nun als eine Frucht der Regierung des Fürsten Bismarck hinzustellen, den Spieß umzukehren, den er gegen uns gekehrt hat, dessen wollen wir uns nicht schuldig machen, nein! ich sage, nur durch dieses Verhalten in der ersten Zeit und in der entscheidenden Entwicklungsperiode hat das Ministerium mehr zum Fortkommen der sozialistischen Bewegung beigetragen, als es an sich sonst der Fall gewesen wäre. Das ist ja vollständig richtig, den eigentlichen Umfang, die eigentliche Größe und Bedeutung hat die sozialdemokratische Partei erst gefunden seit dem Jahre 1872. Es ist gesprochen worden von der Schule, von der Bedeutung der Schule auf die Erziehung. Der Abgeordnete Jörg hat gesagt, diese Schule, der man die religiösen Elemente mehr und mehr entzogen, die moderne Schule sei das eigentliche Seminarium der Sozialdemokratie. Nun, meine Herren, alle die Sozialdemokraten, die jetzt da sind, bis zum zwanzigsten Lebensjahr herunter, die sind aus der religiösen Musterschule, wie sie Herr von Mühler eingerichtet und verwaltet hat.

(Lebhafter Beifall links.)

Das sind die echten und rechten Musterkinder der preußischen Regulative! Sie haben ihre Schulzeit absolvirt noch unter dem Regime Mühlers, noch während alle diese religiösen Elemente, von denen die Rede ist, vollständig die Herrschaft über die Schule hatten, wie man sie nicht besser wünschen konnte. Wenn man vielleicht etwa sagen wollte, das Ministerium Falk, welches nun gefolgt sei, habe für die, die aus der Schule entlassen seien, durch seine Stellung zur Kirche und Schule entgegengewirkt, dann muß ich doch sagen, die religiöse Erziehung, diese Ausbildung muß doch sehr schwach und äußerlich gewesen, die durch das bloße Erscheinen eines anderen Ministers wieder in ihrer Wirkung hätte neutralisirt werden können. Dasjenige, was wir an der Volksschule in jenen Zeiten auszusetzen haben, ist ja das, daß sie aus die Entwickelung des Denkvermögens zu wenig Werth und Sorge gelegt hat, um desto mehr stark im Glauben zu machen und nebenbei auch das Gedächtniß möglichst zu stärken. Nun, meine Herren, diese Stärkung im Glauben bei einseitiger Entwickelung des Denkvermögens kann auch dazu führen, wenn der Glaube eine falsche Richtung bekommt, daß man eben so gern bereit ist, an die Wunder, die Herr Most für das sozialistische Jenseits verkündet, zu glauben.

(Heiterkeit.)

Wenn ich auf die Agitatoren der Sozialdemokratie sehe, so muß ich es bewundern, mit welcher Akkuratesse sie die Kernsprüche aus den Schriften der Sozialdemokraten wiedergeben, wie sie stundenlang Reden mit einer großen Gedächtnißkraft zu halten vermögen;

(Heiterkeit)

da muß ich mir oft sagen, wenn sie solche Leistungen hervorbringen, die nicht im Verhältniß zu ihrem sonstigen Bildungsstandpunkt stehen, daran zeigt es sich, wie sehr gerade in jener Zeit das Gedächtniß geübt worden ist durch die große Zahl Kernsprüche, Gesangbuchlieder, die diese jungen Leute seiner Zeit haben auswendig lernen müssen.

(Heiterkeit.)

Freilich die Gesangbuchlieder sind längst vergessen. An Stelle der biblischen Kernsprüche sind andere getreten. Wäre nur das Denken etwas mehr entwickelt worden!

Meine Herren, darüber ist bei mir kein Zweifel, daß die sozialistische Bewegung der letzten Jahre eine Folge ist der wirthschaftlichen Verhältnisse. In der That hat sich die sozialistische Bewegung gerade an der Magenfrage in den letzten Jahren entwickelt. Jene Nachwirkung des Kriegs, jene Gründerperiode, die große Nachfrage nach Arbeitern, das Bestreben der Arbeitgeber, sich untereinander die Arbeiter abspenstig zu machen, das hat diese Arbeiterverhältnisse damals so aufgelockert, nicht irgend ein Paragraph eines neuen Gesetzes. Jene Auflösung der Arbeiterverhältnisse ist ein Produkt der wirthschaftlichen Verhältnisse dieser Jahre gewesen; in diesem ausgelockerten Boden ist die Saat fruchtbringend gefallen, da hat sie jene Entwickelung gefunden. Man hat sich von sozialistischer Seite der Lohnfrage überall bemächtigt, wo. unzufriedene Arbeiter vorhanden waren, man hat Strikes organisirt, man hat den Lohnstreit als Partei auszufechten gesucht und hat sich auf dem Boden der Lohnfrage jene Organisation geschaffen, die man nachher politisch zu verwerthen bestrebt gewesen ist. Nachher hat die wirthschaftliche Lage ein umgekehrtes Bild gezeigt.

(Ruf aus der äußersten Linken: Altenburg!)

Es ist der Krach, der Rückgang der Löhne eingetreten. Nun hat man sich der Unzufriedenheit über diese Verschlechterung der Verhältnisse bemächtigt, nun hat man auch diese Unzufriedenheit der Arbeiter politisch zu verwerthen gesucht. Die Bewegung hätte aber nach meinem Dafürhalten nicht den Umfang und die Ausdehnung gewinnen können, wenn ihr nicht zu Hilfe gekommen wäre eine große apathische Stimmung, eine Zurückhaltung in öffentlichen Angelegenheiten in weiten Klassen der Bevölkerung. Gegen diese Klassen erhebe ich mit den Rednern anderer Parteien meine Vorwürfe, wir wollen aber auch diese Apathie zu verstehen suchen. Es hat eine Zeit gegeben unmittelbar nach den großen militärischen Erfolgen, wo ein unberechtigter Optimismus platzgriff, weil man glaubte, wir wären nicht bloß die tapferste, sondern auch gebildetste und reichste Nation, es verstehe sich jetzt alles ganz von selbst, die Entwickelung schreite siegreich vor. Diese optimistische Stimmung in weiten Kreisen der Bevölkerung hat auf die ruhige, thätige, politische Arbeit nicht günstig eingewirkt. Es ist dann ein Umschwung eingetreten, es sind die Zeiten des Pessimismus gekommen, in denen man sagte, wir Deutsche können nur billig und schlecht produziren, wir gehen der wirthschaftlichen Verarmung entgegen, es ist keine Rettung. Auch diese pessimistische Stimmung hat entgegen gewirkt der Theilnahme des Volks an der Bekämpfung der Sozialdemokratie; ja, meine Herren, diese pessimistische Stimmung hat sehr viel verwandtes mit der Sozialdemokratie. Wenn ich einen großen Theil der schutzzöllnerischen Presse mir ansehe, für die ich übrigens keinen Theil des Hauses verantwortlich mache, wenn ich dort lese, daß die Freihändler an Elend und Noth Schuld seien, wenn man hier dem Büreau Bilder einschickt, auf welchen eine hungernde Familie dargestellt ist und dabei die Köpfe von Mitgliedern dieses Hauses als Ursache dessen, so kann man es nicht leugnen; diese Agitationen stehen mit denen der Sozialisten auf einer Höhe.

(Sehr wahr!)

Die Theilnahme an den Wahlen hat von Seiten der gegnerischen Parteien der Sozialisten sehr viel zu wünschen übrig gelassen, aber nicht ohne Schuld ist die Regierung daran. Wenn die Regierung sich nicht für verantwortlich erachtet der Mehrheit des Volks, dem Parlament, der Volksvertretung gegenüber, die aus den Wahlen hervorgeht, kann man sich nicht wundern, wenn die einzelnen Wähler sich auch weniger verantwortlich fühlen für den Ausfall, wenn die rechte Energie der Betheiligung an der Wahl fehlt. Die letzten Wahlen haben in weiten Kreisen Verwunderung erregt, haben das Bestreben wachgerufen, den Bestrebungen der Sozialdemokraten entgegen zu treten. Diese Bestrebungen sind lebendig geworden, sie haben in der letzten Zeit nachgelassen. Nun kommt das Attentat, meine Herren. Mir liegt es durchaus fern, die sozialistische Partei irgend dafür verantwortlich zu machen, ich bin der Meinung, dieses Attentat ist viel weniger ein politisches Attentat als andere Attentate der letzten Jahrzehnte. Das Attentat ist das Werk einer verlumpten, verlotterten, von Jugend auf verwahrlosten Persönlichkeit, die ihrem Trieb zum Zerstören, ihrer Bestialität Ausdruck zu verleihen suchte, und dabei eine gewisse Großmannssucht, eitle Prahlerei entwickelt hat. Die Persönlichkeit hat die sozialistische Partei selbst zu beschwindeln gesucht, ist förmlich von ihr ausgestoßen  worden, hat ihr nur gewisse Phrasen entliehen, weil derartige Persönlichkeiten stets geneigt sind, ihre eigene Persönlichkeit herauszuputzen mit Phrasen, wo sie am kräftigsten und dem Gaumen am schmackhaftesten geboten werden. Der Zusammenhang dieses Attentats mit der sozialdemokratischen. Partei ist ein rein äußerlicher, aber das muß ich sagen, in weiteren Kreisen hat dieses Attentat die Aufmerksamkeit auf die sozialdemokratische Bewegung gelenkt, und gerade dadurch, weil dieses Subjekt sich solcher Phrasen bediente, die eine erschreckliche Aehnlichkeit mit solchen Phrasen und Redensarten, wie wir sie in der „Berliner Freien Presse“ wiederholt zu lesen gehabt haben. Noch mehr ist die Bevölkerung erregt worden durch die Art, wie die sozialdemokratische Presse das Attentat behandelt hat,

(sehr wahr!)

indem sie das Attentat nicht als Schlechtigkeit und Wahnsinn eines einzelnen Menschen, wie sie hier es dargestellt haben, betrachtet, sondern auf das Konto der bestehenden Ordnung der gesellschaftlichen Einrichtungen gestellt hat. Dadurch ist eine weit verbreitete Bewegung allerdings im Volk entstanden, und, meine Herren, wie alles, was auch noch so schlechtes auf der Welt geschehen mag, seine guten Seiten hat, so konnte in der That diese Schandthat unter den Linden ein Anfang sein einer weitgreifenden Reaktion im guten Sinn gegen die sozialdemokratische Bewegung.

(Lebhafte Zustimmung.)

Alle Parteien fühlten sich einig in der Verurtheilung des Attentats, mit Ausnahme der Sozialisten, alle einig in der Kundgebung gegen die ehrwürdige Person Seiner Majestät des Kaisers. Da kommt eine solche Gesetzesvorlage. Die Sozialisten waren isolirt gegenüber allen anderen Parteien, jetzt wird umgekehrt die Einigkeit der anderen Parteien gestört, diese Parteien erscheinen jetzt der Regierung gegenüber gespalten; die Sozialisten, ich will nicht sagen, sie erscheinen gedeckt, aber sie treten in den Hintergrund, die Aufmerksamkeit ist abgelenkt, in erster Linie von dieser Frage hingelenkt auf diese Gesetzesvorlage. Meine Herren, kann man wohl ungeschickter verfahren in der Bekämpfung der Sozialdemokratie?

(Ruf: Sehr richtig!)

Kann man der sozialdemokratischen Bewegung mehr nützen, als es dadurch geschieht? Herr Abgeordneter Gras von Bethusy-Huc sagt: das Volk verlangt, daß etwas geschehe; Herr von Helldorff bezeichnet das noch näher: der loyale, ruhige Bürger verlangt, daß etwas geschehe, der schlichte Sinn des Volks verlangt, daß etwas geschehe. Ja, meine Herren, einen Bruchtheil des Volks außerhalb hat man bei dieser Vorlage auf seiner Seite, das ist derjenige Bruchtheil des Volks, der Ruhe für die erste Bürgerpflicht hält,

(Heiterkeit)

derjenige, der, wenn auf der Straße etwas passirt, den Kopf aus seiner Zipfelmütze heraussteckt und fragt, was da los sei und dann sagt, sofort müsse nach der Polizei geschickt werden. Hat man nach der Polizei geschickt, so zieht er den Kopf wieder zurück und legt sich wieder auf das Ruhelager und bleibt nach wie vor der ruhige, loyale Bürger, der niemandem etwas zu Leid thut. Meine Herren, diese staatserhaltenden Kräfte erhalten am wenigsten den Staat.

(Große Heiterkeit.) 

Diese stehen allerdings auf Seite der Vorlage; diese verlangen allerdings, daß die Polizei komme, damit sie selbst um so weniger zu thun brauchen, damit sie in ihrer elenden Selbstgenügsamkeit, die diese Art von Philisterium auszeichnet, von der politischen Arbeit, vom Eingreifen in das öffentliche Leben sich fernhalten können. Aber die thätigen strebsamen Bürger, die sich verantwortlich halten für das, was im Staat geschieht, stehen nicht auf Seite dieser Vorlage, sie fühlen sich gekreuzt in ihren Bestrebungen, abgeschreckt, gestört zum mindesten durch das, was diese Vorlage an Spaltungen innerhalb der wirklich staatserhaltenden Elemente zu Wege bringt. Meine Herren, an sich erklärlich ist diese Vorlage uns gar nicht, und eben deshalb kann die Regierung sich nicht verwundern, wenn man nach anderen Erklärungsgründen sucht, wenn in weiten Kreisen sich die Meinung verbreitet, die Vorlage sei weniger gegen die Sozialisten als gegen die Majorität des Reichstags gekehrt. Herr von Bennigsen hat mit großer Präzision die Frage aufgeworfen, ob die Regierung vorher überzeugt gewesen sei, wie es Graf Bethusy-Huc andeutete, daß diese Vorlage die Genehmigung des Reichstags nicht erhalten werde. Darauf hat Herr von Bennigsen keine runde und klare Antwort erhalten, es ist nur geantwortet worden, die Regierung nimmt diese Vorlage ernst. Wir wollen wissen, ob sie vorher überzeugt war, daß diese Vorlage die Zustimmung des Reichstags nicht finden werde. Meine Herren, wollen Sie wirklich den Glauben erwecken, daß diese Vorlage nicht gegen die nationalliberale Partei, sondern gegen die Sozialisten sich kehrt, dann, meine Herren, dann rathe ich Ihnen, die Meute in der offiziösen Presse jetzt sehr an die Kette zu legen,

(Heiterkeit)

denn wenn das so fortgeht, wenn die Tonart sich steigert, die jetzt beginnt, dann muß binnen kurzem der rechtschaffene Landrath, der gute Gendarm oder wer sonst berufen ist, bei der Wahl der Zukunft eine große Rolle zu spielen, wirklich glauben, die Nationalliberalen seien schuld an der ganzen sozialistischen Bewegung, der Fraktionsgeist, der Doktrinarismus — Theorie sagt Herr von Helldorfs, ich weiß nicht, wie die Schlagworte alle heißen —, die seien eigentlich die tiefere Ursache vielleicht des Attentats selbst. Das kommt davon, wenn man eine so schlecht disziplinirte offiziöse Presse hat. Nun, ich habe mich doch darüber gewundert, daß die konservativen Parteien nicht bloß mit einfacher Zustimmung, sondern mit einem gewissen Elan die Vorlage anzunehmen entschlossen sind. Politische Rücksichten mögen Sie ja dazu bestimmen, aber ich kann wenigstens nicht begreifen: auf Ihrer Seite sind gerade auf dem Gebiet der praktischen Polizei so viel erfahrene, gebildete Männer, wie die vom Standpunkt des Polizeitechnikers eine wirklich so polizeiwidrige Vorlage haben gutheißen können.

(Stürmische Heiterkeit.)

Es hat ja eine Zeit gegeben, wo man meinte, die ganze Kunst der Kriegsführung bestände darin, recht scharf draufzugehen, in der man geneigt war, die sogenannten Haudegen als die größten Feldherren anzusehen. Heute gilt diese Kriegskunst schon längst nicht mehr. Hätten wir nicht bessere Generale im Kriege gehabt, wie wir Polizeiminister in Preußen haben, wir hätten sehr traurige Erfahrungen gemacht! Die erste taktische Regel muß doch sein — so habe ich es wenigstens immer verstanden — mit dem Feinde Fühlung zu erhalten, zu wissen, wo er steht, wo er steckt, wie er sich entwickelt, welche Verbindungen er hat, nach welcher Richtung sein Angriff erfolgen soll. Diese Kenntniß haben wir jetzt in erwünschtestem Maß. Ich wünschte nur, daß die Herren von der Polizei soviel von den Sozialisten wüßten wie andere Leute. Die sozialdemokratische Bewegung entwickelt sich gerade in der größten Oeffentlichkeit; wenn man Kenntniß nehmen will, kann einem nichts verborgen bleiben in der ganzen Agitation. Durch das Gesetz heben Sie diese Kenntniß mit einem Schlage auf, Sie drängen die Bewegung zurück aus der Oeffentlichkeit, Sie benehmen sich die Kenntniß, den Umfang zu schätzen, Sie verstopfen das Sicherheitsventil und befinden sich vor einer Bewegung, die Sie selbst nicht mehr abzumessen verstehen.

Sie sagen, die Verbreitung, die Ansteckung wird vermindert. Nun, meine Herren, es ist schon ausgeführt worden, daß diese Ansteckung, diese Verbreitung sich nicht allein in der Oeffentlichkeit vollzieht, daß sie wirksamer, konzentrirter geschieht in den Werkstätten, in dem unmittelbaren persönlichen Verkehr. Man täuscht sich, wenn man glaubt, die Organisation der Sozialdemokratie beruhe hauptsächlich auf der Presse und auf dem Versammlungsrecht. Nein, meine Herren, die Grundlage der Organisation ist gegeben in den Vereinigungen innerhalb der Werkstätten selbst, dort hat die sozialdemokratische Partei während der Lohnstreitigkeiten sich ihre Verbindungen geschaffen, dort werden die Verabredungen getroffen, massenhaft bei Versammlungen zu erscheinen, dort werden die Blätter kolportirt, dort werden die Abonnenten gewonnen, dort werden die Gelder für Agitationszwecke gesammelt. Es ist überhaupt falsch, zu meinen, der politische Schaden der Sozialdemokratie sei der größte, nein, meine Herren, die Vergiftung des Arbeitsverhältnisses, darin liegt der Schaden, die Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, die Zerstörung der Arbeitsfreudigkeit. Die Folgen der sozialdemokratischen Bewegung, die sich in der Werkstatt zeigen, das sind die schlimmsten. Je mehr man die Sozialdemokratie in die Werkstätten zurückdrängt, sie aus der Oeffentlichkeit in die Werkstätten konzentrirt, um so mehr steigert man die Gefahr der sozialdemokratischen Bewegung. Allerdings, wenn keine Versammlungen, keine Blätter mehr existiren, so hört die öffentliche Reklame auf, es wird dann nicht mehr in den Markt hinausgeschrieen, aber dann besorgt die Polizei die Reklame selber. Es entwickelt sich dann ein so kleinliches Verfolgungssystem und muß sich nothwendig entwickeln, daß dadurch fortwährend die öffentliche Aufmerksamkeit im höchsten Maß auf die sozialistische Bewegung hingeleitet wird. Das Thema ist noch nicht erörtert, wie die Polizei selbst durch ihre kleinlichen und ungeschickten Maßnahmen dazu beigetragen hat, für die sozialistische Agitation Propaganda zu machen, wie sie aus wirklich oft ganz unbedeutenden Leuten Märtyrer in den Augen der Menge geschaffen hat. Wir werfen ihr durchaus nicht vor die zu laxe Handhabung, nein, meine Herren, wir werfen ihr vor die zu laxe Handhabung nach der Seite, daß sie nicht die Rechtssphäre anderer Bürger gegen die Sozialisten schützt. Wir werfen ihr auch vor ungeschickte Handhabung des bestehenden Gesetzes. Man löst Versammlungen auf. Ja, meine Herren, es ist bei uns eben das Unglück, daß immer nur eine Partei am Ruder ist, daß immer dieselbe Partei die Polizeiminister stellt, dieselbe Partei immer Hammer ist und niemals Amboß. Wäre das nicht der Fall, dann würden die Herren, wenn sie selbst Gelegenheit hätten, einmal Mitglieder einer aufgelösten Versammlung zu sein, dann würden sie erst wissen, wie ungeschickt und gerade entgegengesetzt die Auflösung solcher Versammlungen wirken kann. Gewiß, solche Versammlungen haben in vielen Fällen den Zweck, aufzureizen, recht sehr aufzureizen; aber das besorgt der auflösende Beamte in vielen Fällen oft besser, als der Redner von der Tribüne.

Ueber eins beklage ich mich auch in der Handhabung der bestehenden Gesetze; nicht darüber, daß zu wenig Beleidigungsklagen wegen des Fürsten Bismarck angestrengt sind, nicht darüber, daß man politische Prozesse gegen die Sozialisten zu wenig angestrengt hätte; — nein, meine Herren, daß den Verleumdungen der Privatehre, wie sie von der Partei und ihrem Blatte, der „Berliner freien Presse“, systematisch betrieben worden sind, daß denen gegenüber die Polizei weniger am Platz gewesen ist. Ich spreche nicht von Verleumdungen politischer Persönlichkeiten, nicht davon, daß man am Morgen der Wahl des Abgeordneten von Saucken in der „Berliner freien Presse“ verkündigte, es seien eben Arbeiter erschienen, die hätten noch auf ihrem Rücken die Spuren der Peitsche gezeigt, die Herr von Saucken ihnen als Arbeitgeber hätte angedeihen lassen, — nicht, daß von anderer Seite ein Kandidat als Wucherer, ein dritter als Newyorker Millionendieb bezeichnet wurde, denn das muß jeder sich gefallen lassen, der in der Oeffentlichkeit auftritt, und kann dies umsomehr, wenn er eine politische Notorietät hat; eine Persönlichkeit, die sich im politischen Leben bewegt, ist durch die Notorietät geschützt. Aber es ist etwas anderes; es besteht das System, wenn irgend ein Bürger in einer Versammlung bei irgend einer Gelegenheit gegen die Sozialisten spricht, so wird er sofort in seiner Privatehre, in seiner Privatstellung in verleumderischer, böswilliger, lügnerischer Weise angegriffen, es wird ein vollständiges System des Terrorismus zu üben gesucht, um abzuschrecken, gegen die sozialistische Bewegung aufzutreten. Und da haben mir oft manche gesagt, die sich angegriffen fühlten: wenn sie beim Staatsanwalt sich beklagen, so sagt der, es ist kein öffentliches Interesse vorhanden, dergleichen zu verfolgen.

(Hört, hört! Sehr wahr!)

Gewiß, meine Herren, es kann oft ein öffentliches Interesse  nicht vorhanden sein, aber es kann auch dieses Verleumdungswesen — nicht Beleidigung, Beschimpfung, das lasse ich mir alles gern gefallen,— also die Angriffe auf die Privatstellung und die Verleumdung des einzelnen kann zu einem derartigen System erhoben werden, daß ein öffentliches Interesse in der Bekämpfung anerkannt werden muß. Wenn wir alle unsere Kraft auf dieses Gesetz stellen, auf die polizeiliche Verfolgung, dann ist dies, wie dies richtig bemerkt wurde, die Bankerotterklärung der bürgerlichen Gesellschaft als solche, gegenüber der Sozialdemokratie noch etwas zu vermögen.

Der Herr Minister mag sagen: ja, die Mittel reichen nicht, es muß außerdem noch etwas geschehen zur Bekämpfung der Agitation; aber, meine Herren, in dem Augenblick, wo Sie die eine Partei mundtodt machen, da machen Sie es doch ganz unmöglich, diese Partei zu bekämpfen, wenigstens wirksam zu bekämpfen in ihrer Agitation. Es wird ja diese ganze Kraft gelähmt, und doch müssen wir der Meinung sein, daß schließlich allein auf diesem Weg der Ueberzeugung diese Bewegung eingeschränkt werden kann. Es hilft nun einmal nichts, diese Bewegung muß auf demselben Wege wieder hinaus aus dem deutschen Volke, wo sie hineingekommen ist; ein anderer Weg führt nicht zum Ziel. Und dann, meine Herren, können Sie es hindern, daß diese Angriffe auf diese Bestrebungen der einen Partei auch die Beschränkung einer ganz anderen Partei sofort nach sich ziehen? Es ist von den Zielen der sozialdemokratischen Partei gesprochen worden, die bekämpft werden sollen. Nun, auf dem offiziellen Programm der sozialdemokratischen Partei steht auch in einer Nummer das Verbot der Sonntagsarbeit. Das fällt also auch in die Ziele der sozialdemokratischen Partei. Herr von Helldorff und die Herren Sozialisten stimmen ja in diesem Punkt genau überein. Wenn nun ein Sozialdemokrat eine Rede für das Verbot der Sonntagsarbeit hält, können Sie ihn dann mit Gefängniß bestrafen, und wenn Herr von Helldorff in seinem Kreise eine solche Rede hält, diesen nicht? was wäre das für eine Gesetzgebung, was für eine Verwaltung! Die Sache würde freilich praktisch sich so gestalten, daß man die Verfolgung an Personen knüpft und sagt, wo die und die Personen auftreten, da werden die Ziele der Sozialdemokratie verfolgt, da müssen wir einschreiten. Was wird dadurch bewirkt? Die Folge ist die, die Wirksamkeit des Gesetzes wird überall dahin getragen, wo jemand aus den sozialistischen Parteien auftritt. Die Wirksamkeit des Gesetzes dehnt sich dann auch auf andere Vereine aus, sie wird sich auch auf Vereine zu gewerblichen Zwecken und Unterstützungskassen ausdehnen, sie wird immer weiter um sich greifen. Herr von Helldorff hat allerdings nur bemerkt, daß es sich ja nicht um eine reaktionäre Maßregel handle; — vorläufig mögen Sie ja damit genug haben, aber wenn dies helfen soll gegen die Richtung gegnerischer Parteien, warum soll man denn nicht auch dazu gelangen, dieselben Mittel auch gegen andere Parteien anzuwenden? Wir lesen ja in der Presse, daß  die Fortschrittspartei, die liberale Partei den Sozialdemokratismus erzeugt habe. Nun, meine Herren, welche Logik liegt denn da näher, als die Quelle zu verstopfen und ein weiteres Gesetz auch gegen diese Parteien zu kehren. Nein, meine Herren, wir haben immer das unsrige gethan gegen die sozialistische Partei; wir bedauern, daß die Regierung durch ihre Angriffe gegen die liberalen Parteien uns fast immer gezwungen hat, eine doppelte Frontenstellung nach beiden Seiten einzunehmen, daß dadurch unsere Kampfesthätigkeit, unsere Kampfesfrische nach der einen Seite geschwächt worden ist, daß dadurch unsere Widerstandskraft nach der einen Seite nur zu oft abgezogen worden ist.

Der Herr Minister hat bemerkt, daß doch der Reichstag sich in sehr großer Zahl versammelt habe, also doch nicht der Zeitpunkt der Einbringung der Vorlage für so ungeeignet zu halten sei. Nun, meine Herren, warum hat sich der Reichstag in so großer Zahl versammelt? Weil trotz aller persönlichen Opfer und Unbequemlichkeiten die Mitglieder von nah und fern sich gedrungen gefühlt haben, nach Berlin zurückzukehren, um Zeugniß davon abzulegen, daß sie mit dieser Vorlage nichts gemeinsam haben, —

(sehr wahr! links)

um darüber keinen Zweifel zu lassen, daß sie absolute Gegner dieser Vorlage und des Systems sind, welches sie vertritt. Herr von Bennigsen hat die Regierung auch auf den Weg der allgemeinen Vereinsgesetzgebung auf eine spätere Zeit verwiesen. Nun, meine Herren, ich muß sagen, ich halte das gegenwärtige Vereins- und Versammlungsrecht, diese Gesetzgebung, die selbst ursprünglich oktroirt ist, die in der verfassungslosen Zeit Preußens entstanden sind, dieses Gesetz, das selbst Herrn von Manteuffel unter allen Umständen genügend erschienen ist zur Aufrechterhaltung der Ordnung, — das halte ich, geschickt gehandhabt und nicht bloß gehandhabt zum Schutz der staatlichen Ordnung im allgemeinen, sondern auch zum Schutz der Bürger angewandt, für vollkommen ausreichend, und wenn es das nicht wäre, — zu einer Regierung, die eine solche Vorlage bringt, die von einem solchen Geiste beseelt ist, wie diese Vorlage, kann man nicht das Vertrauen haben, daß wir uns mit derselben über ein Reichsvereinsgesetz in einigen Monaten verständigen werden.

(Sehr richtig! links.)

Doch, es ist ja kein Zweifel, daß mit vier Fünftels gegen ein Fünftel diese Vorlage abgelehnt wird.

Gestatten Sie mir, nach dem Vorgang der anderen Redner, noch ein paar Schlußbemerkungen über die politische Situation im allgemeinen.

Wir stehen heute am Schluß der parlamentarischen Saison. Am Anfang der Saison im preußischen Abgeordnetenhause glaubten wir ein starkes Merkzeichen der beginnenden Strömung zu erkennen in dem Fallenlassen der Städteordnung. Wir brachten infolge dessen ein Mißtrauensvotum gegen die Regierung ein. Wir waren damals in unserer Stellung und unserer Anschauung durchaus isolirt; auf der einen Seite  trug man sich noch mit dem Glauben, daß in der That Fürst Bismarck mehr als zuvor das Bedürfniß empfinde einer größeren Fühlung mit der parlamentarischen Mehrheit der Volksvertretung, des Reichstags. Diese Illusionen sind vollständig zerstört, die organische Gesetzgebung in Preußen ist vollständig ins Stocken gerathen. Den Schluß der Landtagssession hat eine Vorlage gekennzeichnet, die ebenso rasch wie diese improvisirt an den Landtag gelangte, und die eine ebenso scharfe Zurückweisung von der Mehrheit dieser Körperschaft erfahren hat. Damals stand noch ein Theil der nationalliberalen Partei auf Seiten der Regierung; jetzt ist die Majorität gewachsen, jetzt ist eine geschlossene Oppositionslinie hergestellt, die von der Fortschrittspartei beginnt und die ganze nationalliberale Partei umfaßt. Herr Graf Bethusy-Huc hat daran seine Betrachtungen geknüpft; auch ich finde diese Erscheinung wichtig genug, um sie zu markiren, wenn auch von entgegengesetzten Gefühlen dabei geleitet. Es ist meines Erachtens seit 10 Jahren der erste Fall wieder, wo alles, was sich liberal nennt, in einer hochpolitischen Angelegenheit geschlossen Schulter an Schulter der Regierung gegenübersteht. Die Regierung hat sich von dem Parlament mehr und mehr isolirt. Fürst Bismarck hat sich aber noch mehr isolirt von den Männern, in denen er bisher eine Stütze fand. Herr von Helldorff hat gesprochen von der Art und Weise, wie hier oft Verwaltungsbeamte angegriffen, getadelt würden von den parlamentarischen Körperschaften. Meine Herren, das hat dem Ansehen nicht soviel geschadet, wie der Tadel, den Fürst Bismarck vor den parlamentarischen Körperschaften ausgesprochen hat, hier und am anderen Ende der Straße, gegen Männer, mit denen er Jahre lang zusammen gearbeitet hat.

(Sehr wahr! links.)

Der Herr Minister leugnet die Behauptung des Herrn von Bennigsen, daß die Ministerkrisis permanent sei. Allerdings, die Minister sind wie Blumen auf dem Felde, wenn ein scharfer Wind darüber kommt, sei es von Varzin, sei es von Friedrichsruh, dann sind sie nicht mehr da und ihre Stätte erkennt man nicht mehr.

(Heiterkeit.)

Ich sage nichts unrichtiges, wenn ich behaupte, wir fragen uns oft, wenn wir Morgens ins Haus treten in einer gespannten politischen Situation: ist nicht wieder ein Abgang oder Zugang im Ministerium zu bemerken? Sind das noch dieselben Minister, die wir heute vor uns zu sehen erwarten. Der Herr Minister hat die Hoffnung ausgesprochen, daß der Herr Minister Falk — der einzige feste Punkt, wie ihn der Herr Abgeordnete Lasker einmal bezeichnet hat — im Ministerium verbleiben würde. Ich weiß nicht, ob die politischen Freunde des Herrn Ministers Falk wünschen müssen, daß er in einer Gemeinschaft verbleibt, zu der er vielleicht von Tag zu Tag weniger gehört.

Die staatserhaltenden Kräfte sollen sich zusammenfassen! so wird uns gepredigt hier, so wird uns gepredigt in der offiziösen Presse. Meine Herren, wenn nur das die staatserhaltenden Kräfte wären, die die Staatserhaltung am meisten im Munde führen, dann wäre unser Staat wahrlich nicht so fest begründet, wie er nach meiner Ueberzeugung in Wirklichkeit ist. Was hat denn der Autorität der Staatsregierung so sehr geschadet, eine Autorität, die unter allen Umständen erhalten werden muß? Nichts hat ihr so sehr geschadet, als das Verhalten der Regierung selbst in dieser ganzen parlamentarischen Saison, das Verhalten gegen die einzelnen Minister, das Verhaltens gegen die Parteien dieses Hauses, dieses Bestreben, so zu regieren, als ob außerhalb des Fürsten Bismarck gar keine selbstständigen politischen Elemente in der Volksvertretung oder sonstwie vorhanden wären. Meine Herren, dadurch hat die Autorität jeder Staatsregierung einen Stoß der Art erlitten, daß es eines wirklich von dem Vertrauen einer großen Majorität des Reichstags getragenen liberalen Ministeriums bedürfen wird, um diese Erschütterung der Staatsautorität, die im Verlauf der parlamentarischen Saison eingetreten ist, wieder auszugleichen.

Mag aber auch die Verwirrung, welche von Seiten der Regierung erzeugt wird, sich noch weiter steigern; mögen die Verhältnisse sich noch mehr trüben, nach unserer Auffassung ist das deutsche Reich in dem Herzen des deutschen Volkes fest genug verankert, daß wir gewiß der Hoffnung sein dürfen: die Liebe und Treue des deutschen Volkes zu Kaiser und Reich wird uns auch in dieser Zeit vor Klippen und Untiefen schützen, die das Staatsschiff zu umdrohen scheinen.

(Bravo! links.)