Eugen Richter
1838-1906









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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 
 

Arbeiterschutzgesetzgebung. [S.26] Darunter versteht man insbesondere alle gesetzlichen Bestimmungen, welche in dem Titel VII. der allgemeinen Reichsgewerbeordnung enthalten sind, und in Handel und Gewerbe die Vertragsfreiheit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Interesse der Gesundheit und der Sittlichkeit der Arbeiter unter Androhung von Strafen Beschränkungen unterwerfen in Betreff der Arbeit von Kindern, jugendlichen Personen, weiblichen Arbeitern, sowie der Arbeit an Sonn- und Festtagen. Ebenso fallen unter den Begriff der Arbeiterschutzgesetzgebung die Bestimmungen, welche den Arbeitgebern im Interesse der Gesundheit und Sittlichkeit der Arbeiter bestimmte positive Verpflichtungen hinsichtlich der Arbeitslokale, Arbeitsmethoden, Arbeitsordnungen und dergleichen auferlegen. Gesetzliche Bestimmungen dieser Art waren schon in der älteren preußischen Gesetzgebung enthalten, dieselben sind alsdann in der Reichsgewerbeordnung verallgemeinert und erweitert worden. Eine weitere Verschärfung dieser Bestimmungen hat sodann durch eine Novelle zur Gewerbeordnung vom 17. Juli 1878 und in noch größerem Umfange durch die Novelle zur Gewerbeordnung vom 1. Juni 1891 stattgefunden. Diese letztere Novelle hat eine besondere Vorgeschichte. In den letzten Jahren vor 1890 waren aus dem Reichstag mehrfach Anträge hervorgegangen, die Bestimmungen der Reichsgewerbeordnung über Arbeiterschutz noch weiter zu verschärfen, namentlich in Betreff der Kinderarbeit, der jugendlichen Arbeiter, der Arbeiterinnen und der Sonntagsarbeit. Der Bundesrat hatte die aus dem Reichstage hervorgegangenen Gesetzentwürfe, solange Fürst Bismarck Reichskanzler war, also bis 1890, stets abgelehnt.

Ein Umschwung trat ein durch die beiden im „Reichsanzeiger“ veröffentlichten kaiserlichen Erlasse vom 4. Februar 1890. Kurz vorher war Fürst Bismarck als Handelsminister zurückgetreten und durch Herrn von Berlepsch ersetzt worden. Der erste Erlaß an den Handelsminister bezeichnete es als eine Aufgabe der Staatsgewalt „die Zeit, die Dauer und die Art der Arbeit so zu regeln, daß die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit , die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung gewahrt bleiben. Für die Pflege des Friedens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind gesetzliche Bestimmungen über die Formen in Aussicht zu nehmen, in denen die Arbeiter durch Vertreter, welche ihr Vertrauen besitzen, an der Regelung gemeinsamer Angelegenheiten beteiligt und zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Verhandlung mit den Arbeitgebern und mit den Organen Meiner Regierung befähigt werden. Durch eine solche Einrichtung ist den Arbeitern der freie und friedliche Ausdruck ihrer Wünsche und Beschwerden zu ermöglichen und den Staatsbehörden Gelegenheit zu geben, sich über die Verhältnisse der Arbeiter fortlaufend zu unterrichten und mit den letzteren Fühlung zu behalten. Die staatlichen Ber gwerke wünsche Ich bezüglich der Fürsorge für die Arbeiter zu Musteranstalten entwickelt zu sehen, und für den Privatbergbau erstrebe Ich die Herstellung eines organischen Verhältnisses Meiner Bergbeamten zu den Betrieben, behufs einer der Stellung der Fabrikinspektionen entsprechenden Aufsicht, wie sie bis zum Jahre 1865 bestanden hat.“ 

[S.27] Zur Vorberatung dieser Fragen wurde zum 15. Februar 1890 der Staatsrat berufen. Die Ansprache des Kaisers zur Eröffnung desselben enthielt eine wesentliche Einschränkung im Verhältnis zu dem ersten kaiserlichen Erlaß. Es ist in der Ansprache lediglich von der Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit die Rede, und es wird der Gedanke erörtert, die Vertretungen der Arbeiter mit den staatlichen Berg- und Aufsichtsbeamten in Verbindung zu setzen. Ueber die Verhandlungen im Staatsrat waren die Mitglieder verpflichtet, Stillschweigen zu beobachten. Weitgehende Meinungsverschiedenheiten sollen in Bezug auf die Organisation der Arbeitervertretungen bei den Verhandlungen sich geltend gemacht haben.

Der zweite kaiserliche Erlaß hatte eine internationale Arbeiterschutzkonferenz in Aussicht genommen. Dieselbe trat auf Einladung der Regierung am 15. März 1890 in Berlin zusammen. Das Programm für den Kongreß befaßte sich mit der Arbeit in Bergwerken, Sonntagsarbeit, Kinderarbeit, der Arbeit jugendlicher Leute und der Arbeit der weiblichen Personen. Die Frage des Maximalarbeitstages ist in dem Programm nicht enthalten. In der Hauptsache hat die Konferenz das in Deutschland bereits damals geltende Arbeiterschutzrecht den anderen Staaten zur Nachahmung empfohlen. Nur in Bezug auf die weiblichen Arbeiter gehen die Beschlüsse der Konferenz über das in Deutschland damals geltende Recht wesentlich hinaus.

Im Verfolg dieser Bestrebungen und Kundgebungen ging dem neugewählten Reichstage am 6. Mai 1890 eine Novelle zu Tit. VII der Gewerbeordnung zu. Nach sehr eingehenden Verhandlungen gelangte die Novelle erst im Mai 1891 zum Abschluß und wurde am 1. Juni 1891 publicirt. Die Annahme im Reichstage erfolgte mit großer Mehrheit. Dagegen stimmte im Wesentlichen nur die sozialdemokratische Partei.

Die Novelle umfaßte erstens sehr eingehende Bestimmungen über die Sonntagsruhe (s. unter „Sonntagsruhe“), sodann weitere Einschränkungen der Kinderarbeit in Fabriken. In Betreff der Arbeiterinnen bestand bisher nur die Bestimmung, daß der Bundesrat die Verwendung von Arbeiterinnen ebenso wie von jugendlichen Arbeitern für gewisse Fabrikationszweige, welche mit besonderen Gefahren für Gesundheit und Sittlichkeit verbunden sind, gänzlich untersagen oder von besonderen Bedingungen abhängig machen darf. Insbesondere konnte für gewisse Fabrikationszweige die Nachtarbeit der Arbeiterinnen untersagt werden.

Das neue Gesetz untersagt die Beschäftigung von Arbeiterinnen für Fabriken in der Nachtzeit (8 1/2 Uhr abends bis 5 1/2 Uhr morgens) und am Sonnabend, sowie an den Vorabenden der Festtage nach 5 1/2 Uhr nachmittags. Die Beschäftigung von Arbeiterinnen über 16 Jahren darf die Dauer von 11 Stunden täglich, an den Vorabenden der Sonn- und Feiertage von 10 Stunden nicht überschreiten. Wöchnerinnen dürfen während 4 Wochen (bisher drei Wochen) nach ihrer Niederkunft überhaupt nicht, und während der folgenden zwei Wochen nur beschäftigt werden, wenn das Zeugnis eines approbirten Arztes dies für zulässig erklärt.

Arbeitsordnungen schreibt das neue Gesetz vor für alle Fabriken, in welchen in der Regel mindestens 20 Arbeiter beschäftigt werden. Die Ar-[S.28]-beitsordnung muß Bestimmungen enthalten über die Arbeitszeit, die Zeit und Art der Abrechnung und Lohnzahlung, die Kündigungsfrist, über die Art, Höhe und Festsetzung von Geldstrafen, über deren Einziehung und Zweck. Zugleich werden für solche Strafbestimmungen gewisse Grenzen gezogen.

In dem Entwurf der Regierung war auch eine Verschärfung der Strafbestimmungen des § 153 der Gewerbeordnung gegen Mißbrauch des Koalitionsrechts enthalten. — Jm Reichstage haben indessen diese Abänderungen des § 153 keine Annahme gefunden. Dagegen hat der sogenannte Bußparagraph in Betreff des Kontraktbruchs Annahme gefunden. Derselbe bestimmte in Betreff der Gesellen und Gehilfen — nicht auch der Fabrikarbeiter in Betrieben mit 20 Arbeitern und mehr — Folgendes: 

„Hat ein Geselle oder Gehilfe rechtswidrig die Arbeit verlassen, so kann der Arbeitgeber als Entschädigung für den Tag des Vertragsbruchs und jeden folgenden Tag der vertragsmäßigen oder gesetzlichen Arbeitszeit, höchstens aber für eine Woche, den Betrag des ortsüblichen Tagelohns (§ 8 des Krankenversicherungsgesetzes vom 15. Juni 1883) fordern. Diese Forderung ist an den Nachweis eines Schadens nicht gebunden. Durch ihre Geltendmachung wird der Anspruch auf Erfüllung des Vertrages und auf weiteren Schadenersatz ausgeschlossen. Dasselbe Recht steht dem Gesellen gegen den Arbeitgeber zu, wenn er von diesem vor rechtmäßiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses entlassen worden ist“ 

Die Gewerbeordnung hat auch eine Einschränkung der Konventionalstrafen verfügt.

Die Freisinnige Partei hat der Novelle zur Gewerbeordnung im Ganzen zugestimmt, indeß ohne Gutheißung sämtlicher einzelnen Bestimmungen. Die schablonenhafte Regelung der Sonntagsruhe im Handelsgewerbe läßt ebenso unbefriedigt die Handlungsgehilfen, wie sie die Geschäfsleute in vielen Handelszweigen schädigt. Eine zweckmäßige Sonntagsruhe im Handelsgewerbe läßt sich nur ermöglichen, wenn man den Verkauf in den Vormittagsstunden, soweit er nicht lärmender Art ist, völlig freigiebt ohne Rücksicht auf die Zeit des Hauptgottesdienstes. Das war aber von vornherein weder gegenüber der Regierung noch gegenüber der konservativ -klerikalen Mehrheit zu erzielen. Letztere hat sogar im kirchlichen Interesse gegen den Widerspruch der Regierung die Bestimmung durchgesetzt, wonach Unterricht in den Fortbildungsschulen am Sonntage nur soweit zulässig ist, als „die Schüler nicht gehindert werden, den Hauptgottesdienst oder einen mit Genehmigung der kirchlichen Behörden für sie eingerichteten besonderen Gottesdienst ihrer Konfession zu besuchen.“ In vielen Städten wird dadurch die segensreiche Wirkung der Fortbildungsschulen überhaupt in Frage gestellt.

Die Freisinnige Partei in ihrer großen Mehrheit hat auch gegen den oben citirten sogenannten Bußparagraphen gestimmt, weil schon nach dem bisherigen Recht der Arbeitgeber in der Lage ist, nach Vereinbarung mit dem Arbeiter einen Teil des Lohnes einzubehalten und aus dem einbehaltenen Lohne Konventionalstrafen für den Fall des Kontraktbruchs zu decken. Ist hiernach die Möglichkeit gegeben, sich in gleicher Weise gegen einen Kontraktbruch im Falle ausbedungener Kündigungsfristen zu schützen, so ist nicht einzusehen, warum eine zweite Bestimmung zu demselben Zweck eingeführt werden soll.

Für die Annahme des Gesetzes im Ganzen gab bei der Freisinnigen Partei eine Reihe von Bestimmungen den Ausschlag, deren Vorteile die angeführten Nachteile bei sorgsamer Abmessung überwiegen. Die Sozia demokratie, welche sich auf ihre Bestrebungen für Arbeiterschutz soviel zu gute [S.29] thut, stimmte gegen die Novelle. indem sie fälschlich es so darstellte, als ob dieselbe  einseitigen Interessen der Arbeitgeber dienlich sei. Aber gerade den Arbeitgebern legt das Gesetz nach den verschiedene Richtungen unvorteilhafte Beschränkunge auf. Denn in Bezug uns das Koalitionsrecht bleibt in der Novelle alles beim Alten. In Bezug auf Arbeitsordnungen und Konventionalstrafen sind den Arbeitgebern neue Schranken gezogen wurden. Der sogenannte Bußparagraph findet  gleichmäßig Anwendung auf kontraktbrüchige Arbeitgeber wie auf solche Artbeitnehmer. Er erleichtert in gewissen Grenzen einen Schadenersatz aus dem Kontraktbruch — bis zur Höhe des Wochenlohnes eines gewöhnlichen Tagearbeiters —, der sonst nur zu erreichen ist durch Ausbedingung von Konventionalstrafen und Kautionen.

Bezeichnend für die Sozialdemokratie ist auch, daß dieselbe bei der Beratung über die Kündigungsfristen für gewerbliche Arbeiter beantragte, die Kündigungsfrist überhaupt abzuschaffen, also jedem Teil freizustellen, an jedem Tag die Arbeit niederzulegen bezw. den Arbeiter zu entlassen. Die Sozialdemokratie glaubte, daß die Stellung des Arbeiters mehr als diejenige des Arbeitgebers gestärkt werden würde, wenn jeder Teil das Recht erhielte, an jedem Tage das Arbeitsverhältnis zu lösen. Die Sozialdemokratie setzte sich hierbei insofern mit ihrem sonstigen Verhalten in Widerspruch, als sie sonst gerade, beispielsweise bei den Handlungsgehilfen, auf lange und selbst der Verkürzung durch Vereinbarung entzogene Kündigungsfristen dringt. 

In §120 e der Gewerbeordnung ist der Bundesrat ermächtigt worden, für solche Gewerbe, in welchen durch übermäßige Dauer der täglichen Arbeitszeit die Gesundheit der Arbeiter gefährdet wird, Dauer, Beginn und Ende der zulässigen täglichen und der zu gewährenden Pausen vorzuschreiben und die zur Durchführung dieser Vorschriften erforderlichen Anordnungen zu erlassen. Siehe über den Gebrauch, den der Bundesrat u. a. durch die Bäckereiverordnung von 1896 gemacht hat, unter „Bäckereiverordnung“.

Auf Antrag des Abg. Siegle wurde eine Reichskommission für Arbeiterstatistik eingesetzt, welche seit 1892 im Auftrage des Reichskanzlers statistische Erhebungen veranlaßt hat über die Verhältnisse der Arbeitnehmer, insbesondere der Arbeiszeit in einzelnen Gewerben: bei den Bäckereien und Konditoreien, im Mühlen-, im Handelsgewerbe, im Gastwirts- und im Konfektionsgewerbe. Siehe darüber auch „Maximalarbeitstag“, „Bäckereiverordnung“ und „Ladenschlußzeit“. Die Kommission besteht unter dem Vorsitz eines Ministerialdirektors aus 14 Mitgliedern: 7 Vertretern der Reichsregierung und der größeren deutschen Regierungen und aus 7 Vertretern der größeren Reichstagsfraktionen. Auch die FreisinnigeVolkspartei ist in der Kommission vertreten.

Im Mai 1897 hat die Regierung dem Reichstag einen Gesetzentwurf unterbreitet, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung und des Krankenversicherungsgesetzes. Der Gesetzentwurf fußt auf der Untersuchung der Kommission für Arbeiterstatistik über die Verhältnisse der Konfektionsindustrie. Im Gesetzentwurf werden Vollmachten für den Bundesrat verlangt nicht blos für die Konfektionsindustrie, sondern auch für bestimmte Ge-[S.30]-werbe jeder Art in dreifacher Richtung: 1.) zur Vorschreibung von Lohnbüchern oder Arbeitszetteln zur Klarstellung des Arbeitsverhältnisses; 2.) zu der Bestimmung, daß Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern, sofern ihre tägliche Beschäftigung in der Fabrik oder Werkstatt 6 Stunden übersteigt, Arbeit nicht mit nach Hause gegeben werden darf; 3.) soll der Bundesrat ermächtigt werden, die Krankenversicherungspflicht auch für Hausarbeiter und deren Gehilfen einzuführen und die Beitragspflicht für die Krankenversicherung auch auf diejenigen Gewerbetreibenden zu erstrecken, in deren Auftrag die Zwischenpersonen die Waren herstellen oder bearbeiten lassen (Siehe „Konfektionsindustrie“). — Der Reichstag hat den Gesetzentwurf an eine Kommission überwiesen und ist derselbe in dieser Session nicht mehr zur Erledigung gelangt.

In dem Programm der Freisinnigen Volkspartei von 1894 sowie in dem Wahlprogramm für 1898 ist in Bezug auf den Arbeiterschutz bestimmt: Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung insbesondere zum Schutze der Arbeitnehmer gegen mißbräuchliche Anforderungen an ihre Arbeitskraft, Gestaltung der öffentlichen Betriebe zu sozialen Musteranstalten, Sicherung und Verallgemeinerung der Koalitionsfreiheit. — Demgemäß stimmte die Freisinnige Volkspartei im Reichstag am 19. 2. 1897 dem von der Mehrheit des Reichstages angenommenen Antrage zu, die Regierung zu ersuchen, Erhebungen darüber anzustellen, in welchen gewerblichen Betrieben durch übermäßige Dauer der täglichen Arbeitszeit die Gesundheit der Arbeiter gefährdet wird, und auf Grund dieser Erhebungen überall dort, wo eine solche Gesundheitsgefährdung vorliegt, eine entsprechende Verminderung der Arbeitszeit zu regeln. (Siehe auch „Maximalarbeitstag“.)