Eugen Richter
1838-1906









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Politisches ABC=Buch
9. Auflage, 1898

 
 

Bäckereiverordnung. [S.33] Der Bundesrat hat am 4. März 1896 auf Grund des § 120e der Gewerbeordnung (siehe unter „Arbeitschutzgesetzgebung“) Bestimmungen, betreffend die Arbeitszeit in Bäckereien, erlassen, welche vom 1. Juli 1896 an in Kraft getreten sind. Der § 120e der Gewerbeordnung ermächtigt den Bundesrat für solche Gewerbe, in welchen durch übermäßige Dauer der täglichen Arbeitszeit die Gesundheit der Arbeiter gefährdet wird, Dauer, Beginn und Ende der zulässigen täglichen Arbeitszeit und der zu gewährenden Pausen vorzuschreiben. — Dem Erlaß der Verordnung waren mehrjährige Erhebungen der Kommission für Arbeiterstatistik vorhergegangen. Die Verordnung bezieht sich auf diejenigen Betriebe, in welchen zur Nachtzeit zwischen 8 1/2 Uhr abends und 5 1/2 Uhr morgens Gehilfen oder Lehrlinge beschäftigt werden, und auf diese Betriebe auch nur dann, wenn in denselben [S.34] regelmäßig mehr als 3 mal wöchentlich gebacken wird. Im Einzelnen wird bestimmt, daß die Arbeitsschicht jedes Gehilfen die Dauer von 12 oder, falls die Arbeit durch Pausen von mindestens einer Stunde unterbrochen wird, einschließlich dieser Pausen 13 Stunden nicht überschreiten darf. Die Zahl dieser Arbeitsschichten darf für jeden Gehilfen wöchentlich nicht mehr als 7 betragen. Zwischen je 2 Arbeitsschichten muß den Gehilfen eine ununterbrochene Ruhe von mindestens 8 Stunden gewährt werden. Außerhalb der Arbeitsschichten dürfen die Gehilfen zu gewissen Arbeiten herangezogen werden, wie z. B. zur Herstellung des Vorteiges. Für die Lehrlinge soll die zulässige Dauer der Arbeitsschicht im ersten Lehrjahr 2 Stunden und im zweiten Jahre 1 Stunde weniger betragen als für die Gehilfen. Ueberarbeit kann die Verwaltungsbehörde gestatten für den Bedarf von Festtagen oder sonstigen Gelegenheiten bis zu 20 Tagen im Jahr. Außerdem darf Ueberarbeit stattfinden an jährlich 20, der Bestimmung des Arbeitgebers überlassenen Tagen. Zur Controlle der Innehaltuug der Arbeitszeit ist eine polizeilich abgestempelte Kalendertafel in den Backstuben anzubringen, auf der jeder Tag der Ueberarbeit mit Durchlochung oder Durchstreichung mit Tinte kenntlich zu machen ist. Bei Gewährung einer mindestens 24stündigen Sonntagsruhe kann an den 2 vorhergehenden Werktagen eine Ueberarbeit von 2 Stunden stattfinden.

Bei den dem Erlaß vorangegangenen statistischen Erhebungen ist bei  53 % der befragten Bäckereien, welche Gesellen beschäftigten, die Arbeitszeit auch bisher nicht länger als 12 Stunden gewesen. Im Bäckereigewerbe selbst haben sich von 33 vernommenen Meistervertretungen 30 und von 38 Gesellenvertretungen, die vernommen wurden, 16 gegeen die jetzt vorgeschriebene Maximalarbeitszeit erklärt. Der Erlaß dieser Bäckereiverordnung hat im Reichstag Veranlassung zu einer Interpellation von konservativer Seite am 22. Avril 1896 und zur Einbringung eines Antrages von konservativer und freikonservativer Seite gegeben, welcher am 17. März 1897 zur Verhandlung gelangte. Die Konservativen und Freikonservativen hatten den Antrag gestellt, die Verordnung „in einer den berechtigten Interessen des Bäckereigewerbes entsprechenden Weise abzuändern“. Der Reichstag nahm einen Antrag der Centrumspartei (Pichler) an, über diesen Antrag zur Tagesordnung überzugehen, in Erwägung, daß bei den vorhergehenden Verhandlungen Redner verschiedener Parteien, welche die Mehrheit des Reichstages repräsentiren, das Bedürfnis einer Abänderung der erlassenen Bestimmungen ausdrücklich anerkannt hätten und die vom Bundesrat veranlaßten Erhebungen einer Prüfung noch nicht unterzogen werden konnten, bisher auch dem Reichstag nicht mitgeteilt sind, sich mithin noch nicht beurteilen läßt, welche Aenderungen notwendig und zweckmäßig sind, um den berechtigten Interessen der Bäckermeister und Gesellen zu entsprechen und dadurch eine dauernd befriedigende Regelung herbeizuführen. — Der Antrag wurde in namentlicher Abstimmung mit 148 gegen 104 Stimmen angenommen. Für denselben stimmten die Freisinnigen, die Deutsche Volkspartei, die Sozialdemokraten, das Centrum und die Polen, dagegen die gesammte Rechte, die Nationalliberalen und die Antisemiten.

In den Reichstagsverhandlungen wurde Namens der Freisinnigen Volkspartei seitens der Abgg. Richter und Dr. Schneider ausgeführt: es [S.35] sei zu bedauern, daß der Bundesrat so tief einschneidende Bestimmungen im Wege der Verordnung erlassen könne. Die Freisinnigen hätten bei der Gewerbenovelle gegen die Einräumung eines solchen Verordnungsrechts gestimmt. Die Freisinnige Volkspartei ist durchaus nicht gegen jeden Zwang in dieser Beziehung, verlangt aber, daß, ehe man zu einer zwangsweisen Regelung übergeht, der Nutzen eines solchen Zwangs nachgewiesen wird und daß die Nachteile, die mit jedem zwangsweisen Eingriff notwendig verbunden sind, nicht die etwaigen Vorteile aus einer Zwangsbestimmung überschreiten. Die Interessenten haben vielfach ausgeführt, daß dadurch, daß der Schutzmann in die Backstube komme, Denunziationen ermöglicht werden; Streitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Arbeiter widerstrebten dem Meister viel mehr als irgend eine Verkürzung der Arbeitszeit. Unleugbar sind auch im Bäckergewerbe Uebelstände vorhanden und auch Uebelstände, die durch diese Verordnung gar nicht getroffen werden. Von den 47 % der Betriebe, bei denen die Arbeitszeit vor der Verordnung länger war, haben sich die Inhaber von 40 % bereit erklärt, eine kürzere Arbeitszeit einzuführen. Aber wenn man von vornherein die Direktive auf Zwangsbestimmungen richtet bei allen Erhebungen, stößt man die Interessenten derartig vor der Kopf, daß man bei ihnen die Geneigtheit zu freiwilligen Verbesserungen in ihrem Betriebe abschwächt, zu der sie sonst, zumal unter dem Druck der öffentlichen Meinung, bei öffentlicher Bloßlegung der Schäden nach Maßgabe der Erhebungen der Kommission sich geneigt zeigen würden. Der preußische Handelsminister habe gesagt, wenn man alles zusammenrechne, sei ja ein 16 stündiger Arbeitstag nach der Verordnung zulässig. Ja, wenn das wahr ist, dann wäre es doch viel einfacher gewesen, sich auf die einfache Bestimmung zu beschränken, nur die achtstündige Ruhezeit vorzuschreiben; denn dann würde das doch in der Sache auf dasselbe hinauskommen. Nun hat man eine achtstündige Ruhezeit festgesetzt und damit verbunden die 12- oder 13 stündige Maximalarbeitszeit. Auf diese Weise hat man die ganzen 24 Stunden durch die Verbindung von 2 Systemen derart festgelegt, daß der Spielraum zur Berücksichtigung besonderer Verhältnisse derart eingeengt ist, daß noch viel schwerer als sonst die Sache ausgeführt werden kann. Man hat deshalb, um das zu ermöglichen, allerlei Ausnahmebestimmungen gemacht, und dadurch ist die Verordnung immer komplizirter geworden, indem man von den Bestimmungen grundsätzlich Ausnahmen machte und von den Ausnahmen wieder Ausnahmen, sodaß es den beteiligten Kreisen nunmehr schwer fällt, sich den Inhalt derselben auch nur gegenwärtig zu halten. Bei der Beschränkung auf eine Minimalruhezeit, wie sie die Minderheit der Reichskommission für Arbeiterstatistik vorschlug, hätte man wohl sämtliche Vorteile der Bestimmung erreicht ohne die Nachteile und ohne diese ganz komplizirte und unausführbare Kontrolle.

Aus den Mitteilungen des Ministers v. Boetticher bei den Verhandlungen über die seitens der Regierung veranlaßten Erhebungen ging hervor, daß gegen die Aufhebung oder Abänderung der Verordnung z. Zt. wenigstens die preußische Regierung sich erklärt habe, ebenso die Regierung von Sachsen und von Württemberg. Die bayerische Regierung glaubt ein sicheres [S.36] Urteil über die Wirkungen der Verordnung noch nicht abgeben zu können und hat angeregt, nach einiger Zeit eine nochmalige Enquete zu veranstalten. Im preußischen Abgeordnetenhause war ein Antrag der Freikonservativen, die ganze Verordnung außer Wirksamkeit zu setzen, am 16. Juni 1896 zur Annahme gelangt. Nicht lange nach dieser Verhandlung nahm der Handelsminister Frhr. v. Berlepsch seine Entlassung.